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Die Rolle des Verwaltungsrats in Zeiten der Covid-19-Pandemie

Prof. Dr. Marie-Noëlle Zen-Ruffinen, RAin, Of Counsel Tavernier Tschanz, Präsidentin der Stiftung Swiss Board Institute, div. VR-Mandate / Dr. iur. Clarisse von Wunschheim, RAin, Partnerin bei Altenburger Ltd legal + tax, div. VR-Mandate

 

Covid-19-Pandemie
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I. Ausgangslage

Am 16. März 2020 hat der Bundesrat die aktuelle Situation in der Schweiz als ausserordentliche Lage gemäss Epidemiengesetz eingestuft. Neben der Schliessung von Grenzen, Schulen und gewissen Betrieben sowie einer Reihe anderer Schutzmassnahmen verbietet der Bundesrat per 21. März 2020 das Treffen von mehr als fünf Personen im öffentlichen Raum. Eine Ausgangsperre wurde noch nicht erlassen. Derartige Massnahmen wurden in der Schweiz seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr getroffen. Gemäss der Studie der Konjunkturforschungsstelle der ETH (KOF) ist mit einer Rezession für 2020 zu rechnen, und der Schaden für die Wirtschaft wird von Experten auf über CHF 100 Milliarden geschätzt. Auch Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, warnt vor einer bedeutenden Rezession in der Euro-Zone. Es gibt kaum Unternehmen, die die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie nicht zu spüren bekommen werden, viele davon mit dramatischen Konsequenzen.

Pandemien sind jedoch nicht neu. Im Laufe der Geschichte sind sie schon mehrmals aufgetreten und scheinen sogar immer häufiger zu werden, insbesondere aufgrund der Zunahme von Viruserkrankungen bei Tieren. Neu ist bei der Covid-19-Pandemie somit hauptsächlich die mit der fortschreitenden Globalisierung zusammenhängende Geschwindigkeit der weltweiten Ausbreitung und ihr Dominoeffekt auf stark globalisierte Geschäftsprozesse. Unternehmen müssen sich auf eine Wiederholung einer Covid-19 ähnlichen oder sogar schlimmeren Pandemie gefasst machen.

Was ist dabei die Rolle des Verwaltungsrates (VR)? Was sind seine Aufgaben und Pflichten in einer derartigen Krisensituation?

Ziel dieses Beitrages ist es, eine Roadmap der sich stellenden Fragen auszuarbeiten und dem VR mögliche Lösungsansätze zu bieten. Die aufgelisteten Fragen und die vorgeschlagenen Lösungsansätze sind allgemeiner Natur und haben keinen erschöpfenden Charakter. Sie sind als Denkanstösse für umfassendere Überlegungen innerhalb des VR gedacht. Es versteht sich von selbst, dass jedes Unternehmen seine Analyse in Bezug auf die konkreten Umstände (insbesondere seine Grösse, seine Komplexität und die potenziellen Risikofaktoren) vorzunehmen hat.

II. Übersicht zur Rolle des VR in pandemiebezogenen Krisensituationen

Wie sich aufgrund der Covid-19-Pandemie zeigt, sind die potenziellen Auswirkungen einer derartigen Krisensituation vielfältig und tiefgreifend: Sie reichen von Schwierigkeiten, die Geschäfte weiterzuführen, über Umsatzeinbussen bzw. Umsatzausfall und Personalausfall bis zu Liquiditätsengpässen oder der Schliessung des Betriebes. Zudem kann es im Fall einer schlechten Handhabung der Krise auch zu Reputationsschäden sowie einem Vertrauensverlust seitens der Kunden/Konsumenten, Mitarbeiter und Investoren kommen.

Der VR muss schnell handeln bzw. in der Lage sein, Massnahmen zu treffen, um die Krise zu überwinden. Andernfalls kann er sich haftbar machen. Zu gewöhnlichen Zeiten steht es dem VR grundsätzlich nicht zu, sich in operationelle Angelegenheiten, die an eine Geschäftsführung delegiert wurden, einzumischen. Gilt dies auch in Krisenzeiten?

Im Prinzip sollte die Kompetenzaufteilung zwischen VR und Geschäftsführung unverändert bleiben: Der Umgang mit der Krisensituation ist zunächst eine operationelle Angelegenheit, die in erster Linie der Geschäftsführung zufällt. Der VR kann sich jedoch gezwungen sehen einzugreifen, wenn das Gesellschaftsinteresse es gebietet (z. B. falls Mitglieder der Geschäftsführung von der Pandemie selbst betroffen und somit nicht mehr in der Lage sind, die Gesellschaft zu führen). Der Entscheid, in operationelle Angelegenheiten einzugreifen, sollte deshalb reiflich überlegt werden, auch weil er die Geschäftsführung schwächen kann.

Was die dem VR von Gesetzes wegen zustehenden unübertragbaren und unabdingbaren Kompetenzen betrifft (Art. 716a OR), bleibt der VR selbstverständlich alleine zuständig. Um diese in Krisensituationen gebührend wahrzunehmen, bedarf es eines starken Einsatzes und der Handlungsfähigkeit seitens des VR, dies umso mehr, als pandemiebezogene Krisensituationen zahlreiche dieser Kompetenzen direkt betreffen können.

Krisensituationen bedeuten für die Geschäftsführung, aber auch für den VR eine erhöhte Arbeitslast. Die Verfügbarkeit des VR ist somit einer der wichtigsten (und manchmal problematischsten) Faktoren. Zudem wird der VR auch in der Lage sein müssen, in corpore zu entscheiden. In der Praxis konzentriert sich die Handhabung einer Krise oft auf den Präsidenten des VR (VRP) und diejenigen VR-Mitglieder, die proaktiv sind. Der VRP spielt dabei eine ganz wesentliche Rolle: Er ist das Bindeglied zwischen VR und Geschäftsführung und in Krisenzeiten wird sich die Kommunikation mit der Geschäftsführung noch intensivieren. Auch sorgt der VRP dafür, dass die notwendigen Informationen allen VR-Mitgliedern zeitgerecht  zur Verfügung gestellt werden (Informationsfluss und -rhythmus nehmen in Krisenzeiten grundsätzlich zu). Zudem kann der VRP bei Bedarf ausserordentliche VR-Sitzungen einberufen. Auch die anderen VR-Mitglieder sollten nicht passiv bleiben, sondern sich in Abstimmung mit dem VRP aktiv über die Lage und deren Auswirkung auf das Unternehmen erkundigen und kritische Fragen stellen. Ihre Erfahrung (insbesondere in der Handhabung von Krisen) sowie ihr Abstand als externe, unabhängige VR-Mitglieder kann von hohem Nutzen sein.

Auch das Audit Committee oder - falls vorhanden - der Risikoausschuss können relevant werden, da diese sich in besonderem Mass mit der Aufsicht über das Risikomanagement befassen. Der VR sollte bei der Handhabung von Krisensituationen häufig gemachte Fehler vermeiden. Die Unternehmensleitung (i.e. VR und Geschäftsführung) sollte die Krise weder leugnen noch kleinreden. Dadurch geht oft wertvolle Zeit verloren. Im Zweifelsfall sollte der VR davon ausgehen, dass die Auswirkungen grösser sein werden, als es den Anschein erweckt. Auch ist es wesentlich, die auftretenden Probleme ohne Verzögerung (time is of essence), jedoch mit klarem Kopf anzugehen.

Zum Krisenmanagement gehören zudem Antizipation und Vorbeugung. Dies ist Teil der dem VR zufallenden Oberaufsicht über die Geschäftsführung und deren Risikomanagement. Die Praxis hat gezeigt, dass die Überwindung einer Krise schon vor deren Ausbruch beginnt. Das Risiko einer erneuten Pandemie gehört zu den möglichen Szenarien, welche die Unternehmensleitung (und jeder Staat!) berücksichtigen und in ihr Risikomanagement einbeziehen muss.

III. Roadmap

A. Organisation der Gesellschaft (Art. 716a Abs. 1 Ziff. 1 OR)

1. Business Continuity Management

a) Business Continuity Plan

Der VR muss dafür sorgen, dass das Fortführen des Betriebs in der Pandemie-Krise soweit wie möglich sichergestellt wird. Da der VR für die Aufsicht über das Risikomanagement zuständig ist, muss er bereits vor der Krise Risiken mit potenziell dramatischen Konsequenzen identifizieren, überwachen und entschärfen. Er muss insbesondere sicherstellen, dass ein Betriebskontinuitätsplan (Business Continuity Plan) besteht. Eine Pandemie sollte in die Liste der realistischen und möglichen Katastrophen-Szenarien aufgenommen werden.

Bei Ausbruch der Krise sollte der VR sicherstellen, dass die Geschäftsführung Folgendes unternimmt:

  •  Aktivierung und Realisierung des Betriebskontinuitätsplans.
  • Bei Fehlen eines effektiven und zeitgemässen Betriebskontinuitätsplans, Vorbereitung und Realisierung eines Massnahmeplans (action plan) mit dem Ziel, die Fortführung der Geschäfte sicher zu stellen.
  • Durchführung des Plans mit wöchentlicher bzw. täglicher Anpassung desselben aufgrund der (raschen) Entwicklung der Krise und ihrer Auswirkungen (z.B. je nach betroffenen Gebieten, Ansteckungs- und Gefährlichkeitsgrad, Kapazität der Gesundheitsinfrastruktur, dringlichen neuen Rechtsregeln und zwingenden Schutzmassnahmen).

Wichtig ist es, die für die Durchsetzung des Plans zuständigen Personen zu bezeichnen bzw. zu ernennen und die Kooperation zwischen diesen Personen sowie den Informationsfluss untereinander und mit dem VR sicherzustellen. (Siehe unten B. 1. c)

b) Arbeitsunterbrechung

Je nachdem wie sich die Pandemie entwickelt, können sich anfänglich getroffene Massnahmen als ungenügend bzw. unangebracht erweisen (Hygienemassnahmen [Desinfizierungsmittel, häufigere und gründlichere Reinigung insbesondere von Kontaktstellen wie Liftknöpfen, Maskenverteilung, Schutzwände, etc.], Informationskampagnen, Aufruf zur Auto-Quarantäne der betroffenen Mitarbeiter, Schliessung der Kantine/Cafeteria, Anpassung oder Schliessung der Open-Space-Arbeitsplätze, Teamaufteilung bzw. Arbeitszeitanpassung, Absagen von Veranstaltungen, Begrenzung bzw. Verzicht auf physische Sitzungen, Verbot oder Einschränkung von Geschäftsreisen, etc.).

Die COVID-19-Krise führte zu einer Generalisierung des Homeoffice für alle Mitarbeiter, deren Aufgaben grundsätzlich von zu Hause ausgeführt werden können. Diesbezüglich muss der VR kontinuierlich überprüfen, wie viel Präsenz am Arbeitsplatz erforderlich und welche Technologien für remote working (inkl. Ausbau von zusätzlichen IT-Kapazitäten) angebracht sind, um das Fortführen der Aktivitäten zu gewährleisten.

c) Lieferketten und Produktionsunterbruch 

Der VR muss sich zusammen mit der Geschäftsleitung mit dem Risiko eines Unterbruchs der Lieferketten bzw. der Produktion und dessen potenziellen Auswirkungen auf die Geschäftsprozesse sowie den möglichen Gegenmassnahmen (inkl. Einrichtung alternativer Lieferketten) auseinandersetzen.

d) Finanzielle Auswirkungen und Liquidität

Der VR muss mit der Geschäftsführung die Auswirkungen der Krise auf die finanzielle Lage und die Liquidität des Unternehmens analysieren und alle notwendigen Massnahmen treffen, um die Fortführung bzw. das Überleben des Unternehmens zu gewährleisten. (Siehe unten B. 1. b und d)

e) IKS und interne Revision

Der VR muss mit der Geschäftsführung die Auswirkungen der Krise auf das Funktionieren des internen Kontrollsystems und der internen Revision prüfen. Er muss dafür sorgen, dass das IKS und die interne Revision unter allen Umständen weiterhin effizient funktionieren.

f) Schlüsselpersonen und Notfallnachfolgeplanung

Der VR muss sicherstellen, dass für den Notfall eine Nachfolgeplanung besteht. (Siehe unten D.)

g) Beständigkeit des VR

Der VR muss trotz zu erwartenden Schwierigkeiten (Unmöglichkeit von physischen Treffen, Notwendigkeit von ausserordentlichen Sitzungen oder regelmässigen Informationsfluss, krankheitsbedingter Ausfall einer oder mehrerer VR-Mitglieder, etc.) während der gesamten Pandemiezeit in der Lage sein, die Geschäftsführung zu leiten und zu beaufsichtigen. Seine Funktionsfähigkeit kann durch die Umstände stark beeinträchtigt sein. (Siehe unten A. 2. und 3.)

2. VR-Sitzungen

Bei pandemiebezogenen Krisensituationen genügt es oft nicht, dass sich der VR an dem für die nächste Sitzung festgelegten Termin trifft. Vielmehr gilt das Prinzip «time is of essence» und das Eintreten einer Krisensituation kann durchaus die Einberufung einer kurzfristigen ausserordentlichen Sitzung des VR nötig machen. Aus mehreren Gründen kann eine Sitzung mit physischer Teilnahme aller VR-Mitgliedern unmöglich werden (z.B. könnten einzelne Mit-glieder in Quarantäne sein, öffentliche Transporte lahmgelegt sein, ein zu hohes Ansteckungsrisiko herrschen, Einschränkungen bzw. ein Verbot von Personenversammlungen verhängt sein, etc.). Auch stellt sich die Frage, wer eine Sitzung einberufen und führen darf, falls der VRP von der Pandemie betroffen und dazu selbst nicht in der Lage ist.

Das Gesetz bietet darauf keine Antwort. Dies müssen somit die Statuten oder das Organisationsreglement tun. Diesbezüglich ist Folgendes zu empfehlen:

  • Für den Fall, dass der VRP ausfällt, sollten die Statuten die Möglichkeit einer Stellvertretung durch ein anderes VR-Mitglied vorsehen (z.B. Vize-Präsident, oder, falls auch dieser auffällt, ein anderes VR-Mitglied), damit ein Einschreiten des Richters nicht notwendig ist. (Weiteres zum Ausfall des VRP siehe unten A. 4.)
  • Das Organisationsreglement (manchmal auch die Statuten) sieht oft eine minimale Einberufungsfrist (z.B. 10 Tage) vor. Für Krisenzeiten sollte eine kürzere Frist vorgesehen werden (z.B. 2 Tage).
  • Auch die Form der Einberufung untersteht gemäss Statuten oder Organisationsreglement häufig gewissen Anforderungen. Diesbezüglich wäre es angebracht (wie es in der Praxis oft schon der Fall ist), eine Einberufung per E-Mail zu erlauben, um das Verfahren zu beschleunigen. Gleichzeitig würde dies auch das Risiko ausschliessen, das besteht, wenn die lokale bzw. internationale Post und andere Kurierdienstleistungen eingeschränkt sind bzw. gar nicht mehr funktionieren.
  • Das Organisationsreglement sollte es zudem erlauben, Sitzungen per Telefon- bzw. Videokonferenz abzuhalten. Diese Flexibilität ist äusserst wichtig, da es in Pandemiezeiten unmöglich werden kann, eine Sitzung an einem bestimmten physischen Ort zu halten. Die heute zur Verfügung stehenden Technologien bieten unterschiedliche Möglichkeiten einer «Remote»-Sitzung, wobei darauf geachtet werden muss, dass die Identifikation der Teilnehmer, die Geheimhaltung der Gespräche und der Datenschutz sichergestellt sind. Es empfiehlt sich, diejenigen Dienstleistungsplattformen zu bevorzugen, welche die Daten auf Servern in der Schweiz oder Europa speichern.

Was ist zu tun, wenn die Statuten oder das Organisationsreglement für  einer Pandemie nichts vorsehen oder entsprechende Vorkehren der Krisenlage nicht angepasst sind? Bedarf es einer Anpassung des Organisationsreglements, kann der VR diese im Prinzip vornehmen (ist eine Sitzung in corpore nicht möglich, kann diese Anpassung allenfalls durch Zirkulationsbeschluss erfolgen). Anders sieht es aus, falls die Gesellschaft unter der Aufsicht einer Behörde steht, welche Änderungen des Organisationsreglements genehmigen muss (z.B. Banken). Bedarf es einer Anpassung der Statuten, kann es zu Komplikationen kommen, da eine statutarische Änderung durch die GV genehmigt werden muss. Das Einberufen einer GV mag jedoch unter dringlichen Umständen nicht praktikabel bzw. gänzlich unmöglich sein (z.B. bei börsenkotierten Unternehmen).

Dies zeigt, wie wichtig es ist, Krisensituationen schon vor dem Krisenausbruch zu antizipieren und Regeln vorzusehen, die das Funktionieren des VR gewährleisten.

3. VR-Entscheidfällung (Decision Taking)      

Von Gesetzes wegen entscheidet der VR in der Regel mit einfacher Mehrheit der Anwesenden. In der Praxis sehen Statuten bzw. Organisationsreglemente jedoch oft höhere Anforderungen bezüglich Quorum und Mehrheit vor. Solche Regelungen können in Pandemiezeiten den Entscheidungsprozess erschweren bzw. verhindern, z.B. wo ein Präsenzquorum vorgesehen ist und mehrere VR-Mitglieder krankheitsbedingt verhindert sind, oder wo für ein Quorum verlangt wird, dass eine minimale Anzahl von VR-Mitgliedern physisch an einem bestimmten Ort präsent ist.

Somit stellt sich die Frage, ob es angebracht wäre, flexiblere Quoren im Fall von Pandemien vorzusehen. Quorumsregelungen haben zum Ziel, den Entscheidungen des VR eine gewisse Legitimität zu geben. Diesen Leitgedanken sollte man auch in Pandemiezeiten nicht ausser Acht lassen. Jedoch sollte eine Quorumsregelung nicht dazu führen, Entscheide zu blockieren, welche per se schon aufgrund der Pandemie äusserst schwierig sind. Eine mögliche Lösung läge darin  vorzusehen, dass bei der Berechnung des Quorums diejenigen VR-Mitglieder, welche krankheitsbedingt ausfallen (z.B. weil sie auf der Intensivstation oder sogar im Koma liegen), nicht beachtet werden. Eine solche Klausel müsste selbstverständlich restriktiv verfasst werden.

Die allfälligen Mehrheitsregelungen sollten grundsätzlich keine Schwierigkeiten bereiten, da sich die Mehrheit aufgrund der anwesenden Mitglieder bzw. Stimmen berechnet. Anders verhält es sich bei Belangen, die eine absolute Mehrheit aller Mitgliedern (unabhängig von deren Anwesenheit) erfordern. Bei solchen Angelegenheiten sollte eine gewisse Flexibilität für Pandemiefälle eingeräumt werden.

Gelingt es dem VR nicht, für eine Sitzung zusammenzukommen, so kann er via Zirkulationsbeschluss entscheiden (Art 713 Abs 2 OR). Dabei handelt es sich um eine Beschlussfassung unter Abwesenden, durch welche einem an alle VR-Mitgliedern gestellten Antrag auf schriftlichem Wege zugestimmt wird. Dies ist aber nur dann möglich, wenn keines der VR-Mitglieder von seinem Recht Gebrauch macht, eine mündliche Beratung zu verlangen (jedes VR-Mitglied hat somit ein Veto-Recht, was den Entscheidungsprozess anbelangt). Kann man das Verfahren des Zirkulationsbeschlusses nutzen, wenn ein Mitglied krankheitsbedingt ausfällt und somit nicht in der Lage ist, von seinem Veto-Recht Gebrauch zu machen? Unseres Erachtens ist diese Frage zu bejahen, solange kein anderes VR-Mitglied eine Sitzung verlangt.

Der durch Zirkulationsbeschluss zu fällende Entscheid bedarf einer einfachen Mehrheit, es sei denn, die Statuten oder das Organisationsreglement sehen eine andere Mehrheit vor. Dies ist in der Praxis häufiger der Fall. Wird Einstimmigkeit vorgesehen, so stellt sich die Frage, ob eine Beschlussfassung überhaupt noch möglich ist, falls ein Mitglied krankheitsbedingt ausfällt oder sonst nicht mehr in der Lage ist, seine Funktion zu erfüllen. Um eine solche Situation zu vermeiden, ist es empfehlenswert, die Bestimmungen so zu formulieren, dass die wegen krankheitsbedingter Unfähigkeit ausfallenden Mitglieder in der Berechnung der Mehrheit nicht einbezogen werden.

Ist ein allfälliger Beschluss, welcher die statutarischen bzw. reglementarischen Quoren- oder Mehrheitsbestimmungen verletzt, trotzdem gültig? VR-Beschlüsse können in gewissen Fällen nichtig sein. Diesbezüglich verweist das Gesetz auf die für GV-Beschlüsse vorgesehenen Nichtigkeitsgründe (Art. 714 und 706b OR). Die Nichtigkeit kann entweder durch Einrede oder – bei Vorliegen eines besonderen Rechtschutzinteresses (das bei VR-Mitgliedern und Aktionären gegeben ist) – durch eine Klage auf Feststellung der Nichtigkeit geltend gemacht werden. Passivlegitimiert ist die Gesellschaft. Die Nichtigkeit gilt ex tunc, d.h. rückwirkend ab dem Zeitpunkt des betroffenen Beschlusses. Im Gegensatz zu den Beschlüssen der GV, welche während zwei Monaten nach der GV angefochten werden können, besteht gegenüber VR-Beschlüssen kein Recht zur Anfechtung. Die Nichtigkeitsgründe, welche für die GV gelten (Art. 706b OR), finden jedoch per Analogie auf die VR-Beschlüsse Anwendung. Somit können zum Beispiel folgende Beschlüsse von einer Nichtigkeit betroffen sein:

  • Beschlüsse, welche das Recht auf Teilnahme eines VR-Mitgliedes an einer Sitzung oder sein Stimmrecht beschränken;
  • Beschlüsse, welche von einem Ausschuss oder durch den VRP gefällt wurden, obwohl der gesamte VR für solche Beschlüsse ausschliesslich zuständig ist;
  • Beschlüsse, welche an einem schweren Formmangel leiden (z.B. waren nicht alle VR-Mitglieder an eine Sitzung eingeladen ; gewisse VR-Mitglieder treffen unter sich Entscheidungen ohne gebührende Einberufung einer Sitzung; Entscheidungen werden auf dem Zirkulationsweg getroffen, obwohl ein VR-Mitglied eine mündliche Beratung verlangt hat; ein Entscheid wurde durch Zirkulationsbeschluss getroffen und die Mehrheit nur deshalb erreicht, weil ein Mitglied seine Stimme nicht abgegeben hat, und man aufgrund einer «ohne Gegenbericht»-Klausel davon ausging, dass er dem Entscheid implizit zugestimmt hat; vorgesehene Präsenzquoren oder Mehrheiten wurden nicht respektiert).

4. Ausfall des VRP

Was passiert bei einem Ausfall des VRP, etwa, weil er aus gesundheitlichen Gründen seine Funktion nicht mehr erfüllen kann? Der VR kann ohne VRP nicht funktionieren. Die Ernennung eines Präsidenten ist zwingend (Art. 712 Abs 1 OR). In nicht-kotierten Unternehmen wird der VRP in der Regel vom VR selbst ernannt. Bei börsenkotierten Unternehmen wird er von der GV gewählt (für 1 Jahr mit Wiederwahlmöglichkeit).

Wie soll der VR mit dem möglichen Ausfall des VRP und der damit resultierenden Vakanz umgehen? Die Statuten können eine Lösung festschreiben. Oft sehen sie vor, dass die Aufgaben des VRP durch den Vize-Präsidenten (falls einer ernannt wurde) übernommen werden. Sehen die Statuten nichts vor, so steht es dem VR zu, einen neuen Präsidenten zu ernennen. Diese Möglichkeit wird im Gesetz sogar für börsenkotierte Gesellschaften geregelt (Art. 4 Abs. 4 VegüV, der es dem VR erlaubt, für die verbleibenden Amtszeit einen neuen VRP zu ernennen).

B. Oberleitung und Oberaufsicht (Art. 716a Abs. 1 Ziff. 1 und 5 OR)

1. Aufsicht über das Krisenmanagement

a) Gesundheit und Sicherheit

Der VR und die Geschäftsleitung sollten ein klares Zeichen für den Schutz der Gesundheit und die Sicherheit der Mitarbeiter und deren Familien, der Kunden sowie der Geschäftspartner setzen (tone at the top) und entsprechende Vorkehrungen treffen, um die Verbreitung der Pandemie zu bremsen. (Siehe unten B. 3.) 

b) Berichterstattung und Impact assessment

Bei Ausbruch einer pandemiebezogenen Krise, die sich kontinuierlich weiterentwickelt und für die Gesundheit der Mitarbeiter sowie für den Verlauf der Geschäfte gravierende Konsequenzen haben kann, muss der VR fortlaufend informiert werden. Ordentliche Sitzungen genügen dafür nicht mehr. Der VR muss zusammen mit der Geschäftsführung eine effiziente und angemessene Berichterstattung sicherstellen (wobei der VRP eine besondere Rolle spielt). Die Frequenz dieser Berichterstattung (reporting) wird von der Dringlichkeit der Lage, deren Entwicklungstempo und der Risikostufe abhängen (z.B. wöchentliches Update per Telefon- oder Videokonferenz). Es ist durchaus auch denkbar, dass der für das Risikomanagement zuständiger Ausschuss (bzw. der Audit Ausschuss), oder eine durch einzelne VR-Mitglieder zusammengesetzte Ad-hoc-Taskforce damit beauftragt wird, die Krisenhandhabung näher zu verfolgen und/oder die Geschäftsführung diesbezüglich zu begleiten.

Der VR muss über die Auswirkungen der Pandemie und der behördlichen Massnahmen auf die Gesundheit der Angestellten, die Organisation des Unternehmens, den Verlauf der Aktivitäten und die diesbezüglichen Herausforderungen für die Geschäftsführung, die finanzielle Lage (insbesondere die Liquiditätsentwicklung, die Bilanzentwicklung, die Zahlungsfähigkeit und andere wichtige finanzielle Kennzahlen) informiert werden. Der VR muss mit der Geschäftsführung die kurz- und langfristigen finanziellen Auswirkungen der Pandemiekrise analysieren. Der VR muss die Annahmen der Geschäftsführung hinterfragen und auch die Möglichkeit einer Fehleinschätzung durch die Geschäftsführung und deren Konsequenzen in Betracht ziehen.

c) Krisenhandhabung (und Post-Krisenreflexion darüber)

Der VR muss sicherstellen, dass das Management der Krise gut funktioniert und organisiert ist. Ein regelmässig aktualisierter Krisenbewältigungsplan wird es dem Unternehmen ermöglichen, besser zu reagieren und die Krise zu überstehen (ohne überzureagieren oder im Gegenteil die Lage zu unterschätzen). Zu den Bestandteilen eines effizienten Krisenmanagements zählen unter anderem:

  • Interdisziplinäre Teams: Das Krisenmanagement-Team sollte sich aus Mitarbeitern verschiedener Bereiche zusammenstellen (Geschäftsführung, HR, Finanzen, Kommunikation, Rechtsdepartement, etc.). Die zuständigen Personen sollten so bald wie möglich bezeichnet werden, sodass sie sich frühestmöglich treffen und koordiniert handeln können. Dieses Team sollte auch in ständiger Kommunikation mit dem VR (oder einzelnen besonders dafür bezeichnete VR-Mitgliedern oder Ausschüssen) sein.
  • Schnelles und entschlossenes Handeln: Der Krisenbewältigungsplan sollte Handlungsvorgänge, Kommunikationsmodelle, Checklisten und Anweisungen enthalten, welche schnell und unkompliziert angepasst und umgesetzt werden können. Das Krisenmanagement Team sollte mit dem Plan vertraut und in der Lage sein, diesen ohne Verzögerung umzusetzen.
  • Notfallplan: Das Unternehmen soll versuchen, alle möglichen Krisenszenarien durchzuspielen und Notfallpläne vorbereiten, um organisiert und zielstrebig handeln zu können (Beispiele möglicher Szenarien: Alle Mitarbeiter sollen im Homeoffice arbeiten; ein Mitarbeiter steckt sich mit COVID-19 an; das Unternehmen muss Mitarbeiter entlassen oder Kurzarbeit einführen etc.).
  •  Rücksichtsvolle Kommunikation. (Siehe unten B. 1. e)

Nach überwundener Krise sollte der VR zusammen mit der Geschäftsführung eine Bilanz darüber ziehen, wie das Unternehmen diese gehandhabt hat, und für allfällig notwendige Verbesserungen sorgen.

d) Risikomanagement

Der VR muss zusammen mit der Geschäftsführung Massnahmen festlegen, um den Risiken vorzubeugen, und die Umsetzung dieser Massnahmen beaufsichtigen. Diese Massnahmen können sehr unterschiedlicher Natur sein, wie z.B.

  • organisatorisch (siehe oben A. 1.)
  • finanziell (z.B. Bedürfnis nach zusätzlicher Finanzierung oder Anpassung existierender Kreditlinien oder langfristiger Kreditorenposten; Verkauf von Aktiven, welche für den Betrieb nicht wesentlich sind; Verkauf von Wertschriften, welche mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Krise an Wert verlieren werden; Nutzung von wirtschaftlichen Unterstützungsmassnahmen des Staates wie zinslose Bankdarlehen);
  • strategisch oder operationell (z.B. Neuorientierung der Geschäfte und/oder der Produktion auf andere/neue Produkte, um den Verlust zu mindern oder neue Umsatzquellen zu schaffen);
  • rechtlich (z.B. Prüfen der Verträge und der Möglichkeiten, sich von gewissen Pflichten durch Force-Majeure- oder Hardship-Klauseln zu lösen, oder im Gegenteil, gewisse Forderungen geltend zu machen). 

e) Krisenkommunikation

Der VR muss dafür sorgen, dass die Kommunikation sowohl intern wie auch extern effizient organisiert ist. Allfällige im Unternehmen schon existierend Kommunikationsprinzipen bzw. -regeln müssen eingehalten werden (z.B. «one face», «one voice», «facts only», etc.). Die Mitarbeiter müssen gebührend informiert werden. Es kann sich als angebracht erweisen, die Frequenz interner Kommunikation zu erhöhen, wenn Mitarbeiter im Homeoffice arbeiten (um Isolierung und Angstzustände zu mindern).

Was die externe Kommunikation anbelangt, muss sorgfältig geprüft werden, welche Informationen an wen übermittelt werden soll (Klienten, Lieferanten, Investoren, etc.). Bei börsenkotierten Unternehmen ist zusätzlich zu prüfen, welche Informationen zwingend veröffentlicht werden müssen (insbesondere in Bezug auf kursrelevante Ereignisse, wie z.B. ein substanzieller Umsatzausfall oder andere wichtige Veränderungen der Geschäftslage).

Da die Pandemie die Gesundheit der Menschen gefährden kann (Arbeitnehmer, Klienten, Geschäftspartner), muss man im Auge behalten, dass das Risiko eines möglichen Reputationsschaden hoch ist, vor allem wenn das Unternehmen nicht alle notwendigen Schutzmassnahmen trifft oder aber Schutzmassnahmen veranlässt, die gewisse Stakeholders als unangebracht erachten. Dadurch kann sich die Krise duplizieren, was auch den Aufwand auf der Kommunikationsebene vervielfachen kann.

Eine gut konzipierte und durchgeführte Kommunikation kann dazu beitragen, trotz der vielen pandemiebezogenen Unsicherheiten Vertrauen zu schaffen.

2. Strategie

Der VR ist dafür zuständig, die Strategie des Unternehmens festzulegen (die strategischen Ziele und die Mittel, um diese zu erreichen). Sie wird in der Regel als eine Art längerfristiger Kurs festgelegt, den es zu überwachen und zu halten gilt, und der sich nicht mit jeder Witterung verändern sollte.

Der Ausbruch einer Pandemie kann von Natur aus das Fortschreiten oder das Erreichen gewisser strategischer Ziele behindern/verhindern (oder umgekehrt sie fördern). Solch eine Lage erfordert ein sofortiges Handeln des VR und der Geschäftsführung, um festzulegen, (i) ob die Strategie angepasst werden soll, (ii) ob Korrektivmassnahmen notwendig sind um Risiken vorzubeugen, die deren Durchführung gefährden, (iii) ob und was extern kommuniziert werden soll.

Der VR sollte diesbezüglich zusammen mit der Geschäftsführung auch prüfen, ob die Krise in gewisser Hinsicht neue Opportunitäten schafft, welche mit der Unternehmensstrategie im Einklang sind (Kann das Unternehmen innerhalb kurzer Zeit einem neuen Bedürfnis oder einer erhöhten Nachfrage nachkommen? Möglichkeit eines Wachstums via Fusion oder Akquisition? etc.). Der VR muss sicherstellen, dass alle angebrachten Massnahmen getroffen werden, um Lern- und Wachstumsopportunitäten zu identifizieren und zu ergreifen.

Beispiele einiger im Rahmen der COVID-19-Pandemie beobachteter Strategieanpassung: (i) Ein Hersteller medizinischer Geräte, welcher die Herstellung chirurgischer Geräte drastisch herunterfährt, und im Gegenzug die Herstellung von Beatmungsgeräten steigert, um der plötzlichen hohen Nachfrage nachzukommen; (ii) eine Kosmetikmarke, welche die Herstellung gewisser Produkte vorläufig einstellt und die Behälter dieser Produkte für Desinfektionsgel zum Verkauf anbietet; (iii) Restaurants, welche nach der aufgezwungen Schliessung ihrer Betriebe auf die Heimlieferung von Mahlzeiten umgestellt haben.

Der VR und die Geschäftsführung werden sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die Verhaltensänderungen, welche durch die Pandemie verursacht wurden (z.B. Homeoffice, Benützung neuer digitaler Kommunikationsmedien, etc.), zu längerfristigen Auswirkungen auf die Unternehmenswerte oder -prozesse und auf das Verhalten und die Erwartungen der Kunden und der Mitarbeiter führen könnten.

3. Compliance

Haftet der VR, falls die von den Behörden erlassenen Regelungen zur Bekämpfung der Pandemie oder die unternehmens-internen Regelungen zum Schutz der Arbeitnehmer nicht eingehalten werden?  Der VR muss sicherstellen, dass die Geschäftsführung alle anwendbaren Regeln, einschliesslich aller neu erlassenen behördlichen sowie internen Schutzmassnahmen einhält. Besonders wichtig erscheinen dabei die Regelungen zum Schutz der Arbeitnehmer. Bei Pandemien bildet der Gesundheitsschutz ein Hauptanliegen. Neben den menschlichen und betrieblichen Konsequenzen eines ungenügenden Gesundheitsschutzes kann dessen Vernachlässigung neben Schadenersatzforderungen auch zu dramatischen Reputationsschäden führen.

In Pandemiezeiten kann es zu vielen neuen behördlichen Regelungen kommen, welche durch die Unternehmen ohne Verzögerung intern umgesetzt werden müssen. Falls es sich für den gebührenden Schutz der Arbeitnehmer eines bestimmten Betriebes oder Betriebsteils als notwendig erweist, sollten zusätzlich zu den behördlichen Schutzmassnahmen auch weitere, einen breiteren Schutz bietende, betriebsspezifische Verhaltensregeln – wie z.B. Dos und Dont's – erlassen werden.

Behördliche sowie unternehmensinterne Regeln müssen intern gebührend kommuniziert werden (z.B. via Intranet, Plakate an Durchgangsorten, interaktive Tools oder Apps für Smartphones, etc.). Wesentlich ist dabei auch, dass die Mitarbeiter realisieren, wie wichtig die Einhaltung dieser Regeln ist.

Der VR muss sicherstellen, dass die Compliance-Massnahmen angesichts neuer Risiken oder Regeln angepasst werden. Bei Versäumnis macht er sich haftbar. Es ist dagegen nicht die Aufgabe des VR, die angeordneten Massnahmen durchzusetzen, und er kann für das allfällige Nichteinhalten der Regeln durch gewisse Mitarbeiter nicht haftbar gemacht werden. Compliance ist jedermanns Sache.

Es ist für börsenkotierte Unternehmen erwähnenswert, dass der VR für die strikte Einhaltung aller rechtlichen Bestimmungen bezüglich Insider-Trading sorgen muss. Er muss insbesondere sicherstellen, dass keiner der Mitglieder des VR oder der Geschäftsführung aufgrund krisenbezogener Informationen, welche nicht öffentlich sind, Beteiligungen verkauft oder anderweitig damit handelt. 

C. Finanzverantwortung (Art. 716a Abs. 1 Ziff. 3 OR)

1. Liquiditätsmanagement und Auszahlung von Dividenden – Empfehlungen des VR

Das Liquiditätsmanagement bzw. die Gefahr einer ungenügenden Liquidität in Krisenzeiten gehört zu den finanziellen Risiken, welche einer erhöhten Aufsicht durch den VR bedürfen. (Siehe oben B. 1. b und unten F.)

Soll die Auszahlung von Dividenden wegen der COVID-19-Lage auf Eis gelegt werden? Der VR ist dafür zuständig, der GV einen Vorschlag bezüglich der Verwendung eines aus der Bilanz resultierenden Gewinnes zu unterbreiten. Muss der VR dabei die COVID-19-Pandemie, welche zwischen den Finanzabschlüssen (aufgrund derer allfällige Dividenden ausbezahlt würden) und der GV ausgebrochen ist, in Betracht ziehen? Der Ausbruch einer solchen Pandemie ist ein ganz ausserordentliches Ereignis, welches einen bedeutenden Einfluss auf die Aktivitäten und die zukünftigen Perspektiven des Unternehmens haben kann. Somit muss der VR dieses in Betracht ziehen. Er muss sich fragen, ob es angesichts der gesamten Umstände angebracht wäre, Dividenden auszuzahlen, und gegebenenfalls den Betrag sorgfältig festlegen.

Dieser Entscheid kann äusserst schwierig sein, da er ein Abwägen unterschiedlicher, oft entgegengesetzter Argumente voraussetzt:

  • Das Unternehmen hat sicherlich ein Interesse daran, genügend Liquidität zu bewahren, um die Krise zu überwinden. Um festzulegen, ob und wieviel Dividenden ausbezahlt werden sollten, muss der VR die Auswirkungen der Pandemie auf die kurz- und mittelfristige Liquiditätslage beurteilen und die finanzielle Stabilität des Unternehmens prüfen.
  • Besondere Vorsicht und Zurückhaltung ist geboten, wo gewisse Auswirkungen einer Krise – wie bei der COVID-19-Pandemie – zur Zeit des Entscheides noch nicht messbar sind (wie lange dauert die Krisensituation an? Worauf muss man sich befasst machen? Wie wird die Wirtschaftslage nach der Krise aussehen? Wie wahrscheinlich ist es, dass noch strengere behördliche Schutzmassnahmen und Einschränkungen angeordnet werden, welche die Wirtschaft weiter negativ beeinträchtigen?). Dies ist umso mehr der Fall, als die Krisenauswirkungen von Faktoren abhängen, welche für das Unternehmen nicht voraussehbar, bzw. beherrschbar sind.
  • Das Unternehmen wird bei den Aktionären/Investoren Enttäuschung auslösen, besonders dann, wenn im Nachgang zu einer VR-Sitzung die öffentlichen Ankündigung der Dividendenauszahlung schon erfolgte (es kann zudem auch schwierig sein, den Aktionären verständlich zu machen, dass Dividenden trotz eines sehr positiven Geschäftsjahres nicht ausbezahlt werden). Bei börsenkotierten Gesellschaften kann die Nachricht, dass Dividenden nicht ausbezahlt werden, auch zu einem Reputationsschaden und zu einem Vertrauensverlust seitens der Investoren führen (vor allem wenn der gewinntragende Charakter der Aktien der Gesellschaft der Hauptgrund für deren Akquisition war).
  • Ein solcher Entscheid sendet zwangsläufig ein gewisses Signal und das Unternehmen kann, trotz aller Bemühungen um eine angebrachte Kommunikation, die Art und Weise, in welcher dieses Signal durch den Markt aufgenommen wird, nicht kontrollieren. Dieser Reputationsschaden kann sich im Wert der Aktie widerspiegeln und kann in der Folge den Zugang zu Finanzierungen durch den Kapitalmarkt erschweren.
  • In seine Bemühungen, die Werte und den Ruf des Unternehmens zu schützen, sollte der VR auch das Interesse an der Bewahrung von Arbeitsplätzen miteinbeziehen (im Interesse der Arbeitnehmer an der Beibehaltung ihrer Arbeitsstellen, aber auch im Interesse des Unternehmens, seine Arbeitskräfte nicht zu verlieren, und im Interesse der Gesellschaft im Allgemeinen). Zudem sollte der VR auch das Interesse von Gläubigern/Lieferanten an einer rechtzeitigen Zahlung im Auge behalten. Somit kann das unangebrachte Auszahlen von Dividenden, welche die finanzielle Stabilität des Unternehmens gefährdet, durchaus den Interessen gewisser Stakeholder widersprechen. Auch darunter könnte der Ruf des Unternehmens substanziell leiden.

Selbstverständlich ist es in erster Linie das Interesse des Unternehmens, welches den VR in seinen Entscheiden leiten soll. Dieses Interesse ist in der Praxis aber nur schwer von den Interessen anderer Stakeholders zu trennen. Ein Unternehmen besteht nämlich auch (und zwar weitgehend) aus seinen Mitarbeitern, Kunden und Lieferanten.

Im Rahmen der COVID-19-Krise findet man folgende Beispiele von Unternehmen, die die Frage der Dividendenauszahlung vorsichtig angegangen sind: (i) Fluggesellschaften, welche sich aufgrund des Groundings ihrer Flugzeuge entschlossen haben, keine Dividende auszuzahlen; (ii) weitere Unternehmen in der Luftfahrt und anderen Sektoren, wie in der Textilbranche, welche auch angekündigt haben, auf die Auszahlung von Dividenden zu verzichten; (iii) Baufirmen, welche aufgrund der Schliessung gewisser Baustellen erhöhte Vorsicht bei der Auszahlung angekündigt haben; (iii) weitere Unternehmen, welche eine Verschiebung der Dividendenauszahlung oder eines Teils davon angekündigt oder auf die Auszahlung ausserordentlicher Dividenden verzichtet haben.

Nennenswert ist auch die an Verwaltungsräte von Finanzinstituten gerichtete Empfehlung der Kapitalmarkt-Aufsichtsbehörde (FINMA), die Auszahlung sowie die allfällige Höhe der auszuzahlenden Dividenden im Kontext der COVID-19-Krise sorgfältig abzuwägen. «Starke Institute, die freiwillig ihre Ausschüttungen beschränken oder verschieben, werden länger stark bleiben», so die FINMA in ihrer Medienmitteilung vom 25. März 2020.

2. Aktienrückkaufsprogramm

In Pandemiefällen muss der VR zudem sorgfältig abwägen, ob allfällige Aktienrückkaufsprogramme sistiert bzw. aufgegeben werden sollten, um so viel Liquidität wie möglich zu bewahren und somit die Krise besser überwinden zu können. Im Kontext von COVID-19 haben somit viele Unternehmen diese Programme sistiert bzw. sich dazu entschlossen, diese Programme nicht durchzuführen. Falls das Unternehmen sich doch entscheidet, ein bestehendes Aktienrückkaufsprogramm durchzuführen, sollte der VR sorgfältig prüfen, ob und unter welchen Bedingungen es vereinbar mit den Insider Trading Regeln ist, Aktien aufgrund des mit der Pandemie zusammenhängenden Börsenkurssturzes zu einem tieferen Preis zu kaufen.

D. Ernennung und Abberufung der Geschäftsführung (Art. 716a Abs. 1 Ziff. 4 OR) – Nachfolgeplanung

Der VR ist dafür zuständig, die Mitglieder der Geschäftsführung zu ernennen bzw. abzuberufen. Dazu gehört auch die Nachfolgeplanung. Diesbezüglich wäre es angebracht, für den Fall eines plötzlichen Ausfalls des Geschäftsführers (insb. Krankheit) oder dessen vorläufige Arbeitsunfähigkeit einen Stellvertreter zu ernennen.

Die Besonderheit der Pandemiesituation liegt darin, dass aufgrund des hohen Ansteckungsgrades ein Risiko besteht, dass gleichzeitig mehrere Mitglieder der Geschäftsführung erkranken und dadurch nicht mehr in der Lage sind, ihren Funktionen nachzugehen.

In dieser Lage wird die existierende Pandemiekrise durch eine Nachfolgekrise verschärft, die die ganze Krisenhandhabung noch komplizierter machen kann. Der VR muss dafür sorgen, dass unerlässliche Aufgaben dennoch erfüllt werden können. Er muss insbesondere sicherstellen, dass eine aktualisierte Notfall-Nachfolgeplanung besteht, welche den Stellvertreter bzw. Nachfolger des CEO für den Fall, dass letzterer krankheitsbedingt ausfällt, bezeichnet. Er sollte zudem dafür sorgen, dass eine ähnliche Nachfolgeplanung auch für andere Schlüsselpersonen besteht.

Der VR oder gegebenenfalls der Vergütungsausschuss sollte auch prüfen, ob im Rahmen eines Incentive Plan bestehende Ziele angesichts der Pandemieumstände angepasst werden sollten, um auch angebrachte Verhaltensweisen zu fördern. Falls angebracht, sollte der VR auf die Setzung von incentive plans bezogenen Ziele vorläufig verzichten und/oder eine gewisse Flexibilität in der Zielsetzung und -bemessung einräumen.

E. Vorbereitung der GV (Art. 716a Abs. 1 Ziff. 6 OR)

Gemäss COVID-19-Verordnung 2 und Änderung vom 16. März 2020 ist es verboten, öffentliche oder private Veranstaltungen, einschliesslich Sportveranstaltungen und Vereinsaktivitäten, durchzuführen. Dieses Verbot gilt bis zum 26. April 2020 (Verlängerung vorbehalten). Damit dieses Verbot die Durchführung der bevor-stehenden jährlichen GV nicht verunmöglicht, hat der Bundesrat spezifische Massnahmen erlassen (vgl. Art. 6a der COVID-19-Verordnung 2 und Änderung vom 16. März 2020).

Diesbezüglich sei auf die FAQ Coronavirus und Generalversammlungen des EDJP verwiesen (zuletzt besucht am 9. April 2020), welches auf alle bezüglich Durchführung der GV relevanten Fragen antwortet.

F. Benachrichtigung des Richters im Falle der Überschuldung (Art. 725 OR)

Es stellt sich die Frage, ob Art. 725 OR auch im Kontext einer durch die Pandemiekrise verursachten Überschuldung zur Anwendung kommt. Die Pflicht des VR gemäss Art. 725 OR eine Überschuldung anzumelden, gehört zu den wichtigen Aufgaben des VR, und somit auch – im Versäumnisfall – zu den wesentlichen Haftungsrisiken. Diesbezüglich ist hervorzuheben, dass diese Meldepflicht nicht nur bei effektiver Überschuldung gilt, sondern schon dann, wenn eine Überschuldung vorhersehbar ist und nicht abwendbar scheint.

Im Falle der COVID-19 Pandemie hat der Bundesrat per Verordnung den Rechtsstillstand gemäss Art. 62 SchKG für alle Betreibungsverfahren per 19. März und bis 4. April 2020 (bzw. bis 19. April aufgrund der zu Ostern geltenden Gerichtsferien) angeordnet. Somit können keine Betreibungshandlungen gegen den Schuldner vorgenommen werden. Im Konkursverfahren werden (i) die Konkursandrohung, (ii) die Vorladung des Schuldners durch den Richter zur Verhandlung über das Konkursbegehren und (iii) die Zustellung des Entscheids des Konkursgerichts Betreibungshandlungen gleichgestellt, und sind somit für die Dauer der Verordnung nicht möglich.

Dieser allgemeine Rechtstillstand ist per 19. April abgelaufen und wurde mit den folgenden, am 20. April 2020 in Kraft tretenden, Massnahmen ersetzt:

Gemäss Art. 1 der COVID-19-Verordnung Insolvenzrecht ist ein Unternehmen von der Meldungspflicht entbunden, wenn (i) es per Ende 2019 finanziell gesund war und (ii) Aussicht besteht, dass die Überschuldung nach der Coronakrise wieder behoben werden kann. Besteht keine konkrete Aussicht auf eine Behebung der Überschuldung, kann das Unternehmen, unter gelockerten Voraussetzungen, nach wie vor auch eine Nachlassstundung beantragen (Art. 3-5).

Zusätzlich hat der Bundesrat für kleine und mittlere Unternehmen (KMU), die wegen der Coronakrise in Liquiditätsengpässe geraten, neu eine befristete Stundung von bis 6 Monaten eingeführt, die sog. COVID-19-Stundung. Mit dieser Massnahme können KMUs in einem vereinfachten Verfahren eine vorübergehende Stundung gewährt werden, ohne dass ein Sanierungsplan vorliegen muss. Zudem gelten – anders als bei der Nachlassstundung – zum Schutz der Gläubiger spezifische Einschränkungen: so werden namentlich Lohnforderungen nicht von der Stundung erfasst und sind weiterhin voraussetzungslos geschuldet.

Weiterhin gilt, dass Kredite, welche im Rahmen COVID-19-Solidarbürgschaftsverordnung erteilt werden, gemäss deren Art. 24 für die Berechnung der Deckung von Kapital und Reserven nach Artikel 725 Abs. 1 OR und für die Berechnung einer Überschuldung nach Art. 725 Abs. 2 OR Kredite, welche gestützt auf Art. 3 verbürgt werden, bis zum 31. März 2022 nicht als Fremdkapital zu berücksichtigen. Somit besteht bei einer Überschuldung, welche einzig aufgrund des COVID-19-Überbrückungskredits eintritt, von vorneherein keine Meldepflicht.

IV. Schlussfolgerung

  • Das Auftreten neuer Epidemien ist kein neues Phänomen (z.B. SARS 2003, die Vogelgrippe 2004, die Schweinegrippe H1N1 2009, Ebola 2014, etc.). Die Globalisierung, der steigende Handel mit Waren, die zunehmende Personenmobilität und die damit verbundene Transport-Infrastruktur erhöhen das Risiko einer neuen Epidemie bzw. Pandemie.
  • Die von Staaten erlassenen Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie (Quarantäne, Social Distancing, Ausgangssperre, Verbot nicht-essenzieller Aktivitäten, etc.) können die Wirtschaft schwer treffen.
  • Für Unternehmen kann dies ein Überlebenskampf bedeuten. Somit müssen Unternehmen und ihre Organe das Risiko einer Pandemie im Risikomanagement mitberücksichtigen.
  • Bei allen Krisen gilt Antizipation als bestes Verteidigungsmittel, auch wenn es selbstverständlich nie möglich ist, alles vorauszusehen. Ein Mangel an Antizipation führt jedoch meistens im Zeitpunkt des Eintretens der Krise zu einem wichtigen Zeitverlust und einer Zuspitzung der Krise auf Unternehmensebene, die zusätzliche Zeit und Ressourcen in Anspruch nehmen wird. 
  • Der Umgang mit der Krise erfordert von Geschäftsführung und  VR eine erhöhte Verfügbarkeit. Diesbezüglich kann sich (zu) viele VR-Mandate als problematisch erweisen, vor allem wenn das betroffene VR-Mitglied VRP eines Grossunternehmens ist. Gleichzeitig kann sich jedoch die durch unterschiedliche VR-Positionen gesammelte Erfahrung und Einsicht in andere Unternehmen auch als äusserst wertvoll erweisen.
  • Auch wenn die Krisensituation eine starke Mobilisierung des VR erfordert, so bleibt die Krisenbewältigung in erster Linie eine operationelle Angelegenheit, die der Geschäftsführung zufällt. Der VR sollte sich nur in Ausnahmefällen in den Geschäftsbetrieb einmischen. Nichtsdestoweniger wird die Arbeitslast des VR steigen und die Beziehung zur Geschäftsführung sich intensivieren. Ein in guten Zeiten wohlfunktionierendes Duo Geschäftsführung-VR wird die Krise besser bewältigen können. Vorbestehende Spannungen und Konflikte unter VR-Mitgliedern bzw. zwischen VR und Geschäftsführung (z.B. VR der sich zu sehr in operationelle Angelegenheiten einmischt oder Konflikte persönlicher Natur zwischen Mitgliedern der Unternehmungsleitung) werden zu Komplikationen führen, die die Krisenbewältigung substanziell erschweren können.
  • Die Erfahrung sowie der Abstand des VR kann für die Geschäftsführung in solchen Zeiten von hohem Nutzen sein und eine wertvolle Unterstützung bieten.